Vorab muss ich natürlich darauf hinweisen, dass die nachfolgende Darstellung nur meine persönliche, im Lauf der Jahre gewachsene Überzeugung abbildet.
Aikido ist eine Kampfkunst, kein Kampfsport. Es gibt also keine Turniere, keinen Leistungsvergleich der Übenden nach Kampfstärke usw.. Ebenso gibt es kein Regelwerk, welches bestimmte Techniken als unsportlich, d.h. für Wettkämpfe unter sportlichen Bedingungen als zu gefährlich ausschließt. Die Techniken selbst sind so zu trainieren, dass ihre Gefährlichkeit sich nicht verwirklicht.
Damit stellt sich die Frage nach dem Selbstverteidigungswert der Aikido-Techniken.
Zunächst: Was ist Selbstverteidigung überhaupt?
Nach meinem Verständnis geht ein zeitgemäß definierter Selbstverteidigungsbegriff weit über das hinaus, was erforderlich ist, um erfolgreich Straßenkämpfe zu bestehen. Wer Straßenkampf erlernen will (was vielleicht überhaupt nicht möglich ist, wenn es einem nicht "im Blut liegt") sollte sich zunächst klarmachen, dass sie/er die Einhaltung irgendwelcher Anstandsregeln (Aussparen bestimmter Techniken und Körperstellen wegen zu großer Gefährdung des anderen, kein Angreifen von Schwächeren, kein Einsatz von Messern, Flaschen, abgeschlagenen Gläsern usw., Beendigung des Kampfes bei Wehrlosigkeit des Gegners) vergessen kann, sie/er sich aus möglicherweise nichtigem Anlass (anrempeln, schiefe Blicke usw.) auf die Gefahren schwerer körperlicher Verletzungen (z.B. Schädel-Hirn-Traumata, Brüche aller Art, Bänderrisse, Stichverletzungen in lebenswichtigen Organen und Blutgefäßen) einlässt und es eher unwahrscheinlich ist, dass sie/er aus einer ernsthaften Auseinandersetzung auf der Straße unverletzt hervorgeht, "die Straße" aufrüstet und die Möglichkeit einer effizienten unbewaffneten Verteidigung zum Beispiel gegen realistische Messerangriffe - ich rede hier nicht von launigen Dojotechniken - jedenfalls für "Amateure", was die meisten Kampfkünstler und - Sportler sind, mehr als zweifelhaft ist (wer das nicht glaubt, dem empfehle ich, ein messerähnliches Holzstück beidseitig mit roter Kreide einzufärben und einen einigermaßen begabten Partner zu bitten, schnelle Stich- und Schnittangriffe mit Täuschungsmanövern auszuführen und sich die Farbspuren als Messerverletzungen vorzustellen - viel Spaß!).
Berücksichtigt man dann folgendes:
Die Wahrscheinlichkeit, ungewollt und ohne eigene Provokation in eine körperliche Auseinandersetzung verwickelt zu werden, ist einigermaßen gering und lässt sich durch das bewusste vermeiden spezifischer Situationen und Örtlichkeiten weitgehend ausschließen. Ginge es wirklich nur um reine Selbstverteidigung, d.h. um die umfassende Bewahrung der eigenen Integrität, wäre es vermutlich weitaus effizienter, Konfliktvermeidung zu trainieren und sich für den Ernstfall mit Pfefferspray auszurüsten, anstatt waffenlose Kampfkünste zu studieren.
Auch ein mit erheblichen Verletzungen überstandener Straßenkampf kann die berufliche und private Selbstverwirklichung erheblich gefährden (z.B. erhebliche Beeinträchtigung der Sehfähigkeit nach Schlag auf das Auge, Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit nach Kopftreffern mit, aber auch ohne Waffen, Abriss der Kniebänder nach low kick).
Das Konzentrieren auf straßengängige Techniken lenkt tendenziell von dem ab, was heute für ein persönlich erfolgreiches Leben weitaus wichtiger ist, nämlich soziale Kompetenz, Teamgeist, Kampfgeist im weitesten Sinne, Durchhaltevermögen, Engagement, geistige Beweglichkeit, die Fähigkeit wesentliches von unwesentlichem zu unterscheiden und dergleichen mehr.
Unter diesen Gesichtspunkten komme ich auf den nach meinem Verständnis mit dem Aikido verbundenen Selbstverteidigungsbegriff zurück. Das Aikido als "harmonischer Weg" wurde nach dem 2. Weltkrieg auf der Grundlage traditioneller Waffen- und Körpertechniken weiter herausgebildet, und ich unterstelle, dass die traumatische Erfahrung der verlustreichen Niederlage Japans und der nuklearen Katastrophen von Hiroshima und Nagasaki den Begründer des Aikido Morihei Ueshiba tief beeindruckt haben. Man könnte daraus ableiten, dass es das Ziel des Aikido ist, die traditionellen Werte und kämpferischen Fähigkeiten der Samurai (wie auch der Kriegerkasten aller Kulturen) wie Loyalität, Kampfgeist, Mut usw. nicht mehr für im Ergebnis selbstzerstörerische sinnlose Kriege, sondern für ein friedliches soziales Gemeinwesen und die eigene Selbstverwirklichung darin einzusetzen.
Damit wäre allerdings die Frage zu beantworten, wieso (nicht warum) das Training körperlicher Kampftechniken auch die genannten mentalen Eigenschaften fördern können sollte.
Diese Frage zielt auf psychomotorische Zusammenhänge ab. Ich beziehe mich zunächst auf einen Mann, dessen Bücher und Übungen mich entscheidend beeinflusst haben und der der erste Judo-Lehrer (Dan-Träger) Europas war und zur Entwicklung des Judo in Europa maßgeblich beigetragen haben soll. Es handelt sich um den 1984 verstorbenen Moshe Feldenkrais, dessen Erkenntnisse man vielleicht im vorliegenden Zusammenhang stark vereinfacht so zusammenfassen könnte: Seelische und körperliche Verhaltensmuster sind miteinander verschränkt und beeinflussen einander. Die Fähigkeit, körperliche Bewegungsmuster zu ändern und zu verfeinern kann zur Auflösung starrer seelischer Verhaltensmuster und Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten führen.
Wer im Rahmen seiner Möglichkeiten regelmäßig und konsequent Aikido trainiert, wird diese Aussage nachvollziehen können. Die Waffen- und Basistechniken trainieren den Körper, sorgen für eine verbesserte Koordination der Bewegungsabläufe und auch aufgrund der vermehrten "Power" für ein erhöhtes körperliches und durchaus auch kämpferisches Selbstbewusstsein. Das Training der traditionellen Kampftechniken verschafft zunehmend Fähigkeiten und Einsichten in die auch strategischen Prinzipien physischer Auseinandersetzungen und die übergreifende Bedeutung dieser Prinzipien für die meines Erachtens in der heutigen Zeit notwendig im Vordergrund stehenden geistigen Auseinandersetzungen mit sich selbst und anderen (z. B. in folgenden Situationen: tief greifende Lebenskrisen, familiäre Konflikte, Ärger mit Vorgesetzten, Mobbing).
Regelmäßiges und konsequentes Training führt dann in den Kernbereich des Aikido, die Techniken so auszuführen, dass die Kraft des Angriffs umgelenkt und unter Verzicht auf zerstörerische Gewalt möglichst unter Nutzung der Angriffsenergie geführt wird.
Ob dieser Ansatz sich immer in reiner Form auf der Straße verwirklichen lässt, ist zu bezweifeln. Mit Sicherheit wird er aber die Konfliktbewältigungs- und Vermeidungsstrategien verbessern und damit zu einer Verbesserung der Selbstbehauptung sowie der Dialogfähigkeit in allen betroffenen Lebensbereichen führen.
Im übrigen möchte ich die nachfolgenden Passagen aus dem Buch "Siu Nim Tau" von GGM Leung Ting (Wu-Shu-Verlag Kernspecht) zitieren (S. 13):
"Wing Tsun betont die Fähigkeit, die Kraft des Gegners gegen ihn zu richten. Um diese Umkehrung der Kraft erfolgreich zu bewerkstelligen, muss der Wing Tsun - Praktizierende drei wesentliche Mottos meistern können. Als Erstes muss er sich "Von seiner eigenen Kraft befreien". Als Zweites muss er sich "von der Kraft des Gegners befreien". Drittens muss er fähig sein, "die Kraft des Gegners zu nutzen", sie also zu borgen und beim Kontern gegen ihn zu verwenden."
Dem ist aus meiner Sicht bezüglich des Aikido nichts hinzufügen. Die Straßentauglichkeit des Wing Tsun wird soweit ich es ersehen kann im allgemeinen nicht bezweifelt. Diese Straßentauglichkeit dürfte allerdings auch auf der trainierten Bereitschaft beruhen, den Angreifer auf dem direktesten Weg physisch auszuschalten, also auf einer Bereitschaft, die im Aikido gerade nicht im Vordergrund steht.
Zum Schluss noch kurz zum Thema Aikido und Spiritualität:
Aikido ist eine tief spirituelle Kampfkunst. Nach meinem Verständnis bedeutet Spiritualität das Streben nach unmittelbarer Selbsterfahrung. Diese zu beschreiben oder sogar für sich zu postulieren wirkt vorlaut und fade und könnte den Eindruck der Sektiererei entstehen lassen, während das Dojo weltoffen bleiben soll. Deshalb möchte ich auf diesen Gesichtspunkt nicht weiter eingehen und es jedem selbst überlassen, ob und mit welcher Intensität er ihn mit dem Training des Aikido verfolgen möchte
Stefan List (5. Dan Aikikai, Dojo Cho des Aikidojo Kiel)